Leseprobe

i. Haben Sie schon mit Frau Arp gesprochen?

»Fällt Ihnen jemand ein, der Frau Bloch etwas hätte antun wollen? Lassen Sie sich Zeit. Aber sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken… Der erste Instinkt erweist sich oft als wichtiger Hinweis in einer Mordermittlung.«

Julius sah zu, wie sich seine Kollegin bei diesen Worten erwartungsvoll zum Befragten hinüberlehnte – eine Geste, die Kommissarin Nina Holtei an diesem Punkt häufig einsetzte. Das Kinn auf die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Tisch, ihr Ton eher verschwörerisch als offiziell. Wenn Zeit war, wenn also die Zeugen nicht so wie heute bereits vor der Tür Schlange standen, bot man an dieser Stelle auch gern Zigaretten oder Kaffee an. Manchmal verleitete all das einen Zeugen dazu, persönliche Dinge auszuplaudern und ein wenig zu spekulieren, manchmal auch nicht. Heute allerdings kamen die Kommissare Gravi und Holtei dabei voll auf ihre Kosten. Und zwar in jeder einzelnen Befragung.

»Ob mir jemand einfällt? Also – haben Sie schon mit Frau Arp gesprochen? Vivienne Arp?«

»Vivienne Arp. Sie ist eine neue Seniorpartnerin. Oder sie will Seniorpartnerin werden, noch ist sie nur einfache Partnerin. Sie ist jetzt seit einem halben Jahr bei uns, und schon bei ihrer Einstellung hat man ihr zugesagt, dass sie nach einem Jahr Seniorpartnerin wird. Ziemlich ungewöhnlich, wenn Sie mich fragen!«

»Vivienne ist – wie soll ich sagen – sehr durchsetzungsstark. Also beinahe rabiat. Könnte man sagen.« »Um so schnell Seniorpartnerin zu werden, muss sie hart verhandelt haben. Typisch Vivienne!«

»Den Senior-Parkplatz hat sie auch schon. Normalerweise parken die einfachen Partner im Parkhaus, aber Frau Arp hat bereits ihren Parkplatz auf dem Hof.« »Wenn man von Vivienne ignoriert wird, hat man noch Glück. Ich möchte ihr nicht in die Quere kommen. Dass sich einige darum reißen, in ihr Team zu kommen, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.«

»Und: Sie ist schießwütig! Ganz verliebt in ihre Beretta!«

»Was sie bei uns will, ist mir ein Rätsel. Für die sind wir doch nur eine kleine Firma. Vorher war sie bei E&Y – hat internationale Großkonzerne beraten.«

»Auf der Führungsebene hatte schon jeder Streit mit Vivienne. Oder zumindest Diskussionen.«

»Vivienne leitet unsere geplante Fusion mit Coppersdale. Treibt das Projekt mit aller Macht voran. Gott weiß, ob das jetzt nicht vom Tisch ist…«

»Nein, Tamara Bloch war auch für die Fusion. Aber natürlich flogen bei den beiden trotzdem die Fetzen. Konnten sich über die Stimmanteile nicht einigen. Anmaßend, wenn Sie mich fragen: Mit Tamara war auch nicht immer leicht auszukommen, aber die Blochs sind immerhin die Firmengründer. Da können sie größere Stimmrechte erwarten. Aber Vivienne ist erst seit acht Monaten in der Kanzlei.«

»Vivienne hat jeden Tag auf ihrem Schreibtisch zwei frische Muffins stehen – eine Steuergehilfin backt sie ihr, angeblich sind sie kalorienreduziert. Vivienne nimmt das ganz selbstverständlich hin – ich bin mir ziemlich sicher, die Steuergehilfin hat eine Heidenangst vor Vivienne und traut sich jetzt nicht mehr, damit aufzuhören. Das geht jetzt weiter so bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Selbstgebackene Muffins für Vivienne.«

»Wenn Sie einen Vorschlag machen, der ihr nicht passt, zerpflückt sie Sie ohne Rücksicht auf Verluste! Wenn Sie nicht gleich klein beigeben, werden Sie fertiggemacht. Erbarmungslos.«

»Sie ist extrem wettbewerbsorientiert! Egal, worum es geht, Vivienne muss unbedingt gewinnen. Nehmen Sie zum Beispiel den Schießstand: Die Partner gehen alle zwei Wochen zusammen hin, die anderen Mitarbeiter haben ihre eigenen Schießabende. Das ist bei Bloch & Partner so Tradition. Das typische Jubiläumsgeschenk bei uns ist eine Sportwaffe… Die meisten sehen das aber als reinen Spaß, ohne große Ambitionen zu entwickeln. Aber nicht Vivienne! Sie hat natürlich sofort Unterricht genommen, damit sie bei den Turnieren immer ganz vorne dabei ist. Sie hat eine ruhige Hand. Und Tamara Bloch ist doch erschossen worden, oder?«

»Sie ist auch keine echte Rothaarige. Es ist nicht ihre natürliche Farbe, auch wenn es so aussieht. Sie lässt ihren Ansatz jeden zweiten Dienstag vor der Arbeit nachfärben, das ist schon das ganze Geheimnis.«

Nach der fünften Befragung begannen sich die Anekdoten zu wiederholen. Nach der siebten nickte Holtei ihrem Gegenüber zwar immer noch aufmunternd zu, aber Julius sah ihr an, dass sie mittlerweile ein Grinsen unterdrücken musste. Ihm selbst ging es ähnlich.

»Was hältst du davon, Gravi?«, fragte sie ihn dann auch, als ihre Nummer zwölf aus dem Verhörraum entlassen war. »Jetzt haben wir mehr über diese Frau Arp gehört als über das Opfer. Was meinst du: Good girl gone bad?«

Julius musste lachen. »Wohl eher bad girl gone killer, so wie sich das anhört. Na, ich bin gespannt. Holen wir die doch als Nächste rein.«

Holtei lehnte sich zurück und kippte ihren Stuhl so weit, dass sie an die Tür des beengten Raums klopfen konnte. Prompt öffnete sich die Tür, Wachtmeister Scholz, genannt Scholzi, steckte den Kopf herein.

»Ja?«

»Wie wär’s mit Vivienne Arp als Nächstes?«

Scholzi machte ein betretenes Gesicht. »Die ist nicht hier«, sagte er, offenbar ohne die Liste auf seinem Klemmbrett zu Rate ziehen zu müssen.

»War sie nicht am Tatort? Nicht auf der Zeugenliste?«, wollte Holtei wissen.

Julius ging gedanklich die Gesichter der Zeugen durch, denen er am Tatort begegnet war. Lauter Büroangestellte in einer gediegenen Steuerkanzlei. Ein paar interessante Brillen. An eine schießwütige Rothaarige konnte er sich tatsächlich nicht erinnern – aber Holtei und er selbst waren auch nicht die ersten Beamten vor Ort gewesen.

»Doch schon«, sagte Wachtmeister Scholz, »sie war da, aber sie wollte nicht mit aufs Revier kommen. Sie wusste wohl, dass sie das nicht muss. Der Ehemann des Opfers ist auch nicht hier – er stand unter Schock, die Arp wollte ihn in die psychologische Notaufnahme fahren.«

Holtei hob die Brauen. »Könntest du herausfinden in welche Klinik? Und schick rein wen auch immer – danke, Scholzi!«

Scholz zog sich zurück; Holtei wandte sich wieder an Julius: »Dann lass uns das hier mal zügig zum Abschluss bringen – diese Frau Arp möchte ich wenn möglich heute noch in Augenschein nehmen. Ausflug in die psychologische Notaufnahme!«

»Bin dabei«, meinte Julius und erwiderte Holteis Grinsen. Dann setzte er sich für den nächsten Zeugen wieder ein strengeres Gesicht auf.


ii. Indessen

Vivienne Arp hatte an diesem Morgen eine Beförderung erhalten: Ein Schuss ins Herz ihrer Chefin hatte Vivienne doch noch zur am meisten gefürchteten Partnerin gemacht. Von der ewigen Nummer zwei auf die Nummer eins katapultiert.

Nicht, dass ausgerechnet dieses Detail sie besonders gekümmert hätte. Seit am Morgen um acht Uhr zweiundzwanzig der tödliche Schuss gefallen war, befand Vivienne sich im Krisenkontrollmodus.

Der Witwer musste versorgt werden – »unschädlich gemacht« wäre auch ein passender Ausdruck für das, was Vivienne vorschwebte; das war die Aufgabe der psychologischen Notaufnahme, deshalb war sie nun hier. Wahrscheinlich musste sich jemand an die Aufklärung des Mordes machen; eine Aufgabe für die Polizei. Und vor allem musste sich jemand darum kümmern, dass Bloch & Partner – und damit Vivienne selbst – durch den plötzlichen Tod einer Namenspartnerin kein Geld verlor; das war eine Aufgabe für Vivienne.

Nachdem sie – für einen Notfall – erstaunlich lange hatten warten müssen, befand Richard Bloch sich nun seit einer guten halben Stunde in den fähigen Händen einer Doktor Patel. Vivienne hatte Zeit gehabt, einige Dinge in die Wege zu leiten und mit den Leuten von Coppersdale zu telefonieren. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass der Tag gerade noch unter Kontrolle war. Gerade noch.

Außer ihr saß niemand mehr im karg ausgestatteten Wartebereich vor Behandlungsraum B; wahrscheinlich nahm Doktor Patel vor der Mittagspause keine weiteren Notfälle mehr an. Vivienne schlug ihr Handelsblatt auf. Sie hatte beschlossen, mit den anderen Anrufen zu warten, bis Richard die Vollmacht unterzeichnet hatte, und keine große Lust, durch die Glastür auf die Rezeption zu starren. Die Dame – Krankenschwester? – hinter dem Tresen war so ein Jammerlappen.

Vivienne las die Neuigkeiten aus Industrie und Handel mit mäßigem Interesse. Sinkende Wertpapierkurse. Insolvenzen. Das Übliche. Nicht dazu angetan, den Tag in ein freundlicheres Licht zu tauchen. Vivienne war sich sehr bewusst: Wenn Bloch & Partner durch den Mord in die roten Zahlen rutschte, war sie am Arsch. Wenn auch noch die Coppersdale-Fusion platzte: dann doppelt.


iii. Am Abend zuvor

Wer die Absicht hat, sich bei seinen Geschäftspartnern beliebt zu machen, findet in Berlin eine große Zahl an Restaurants, Bars, Clubs, Theatern, kurz: an gastlichen Orten, die dazu einladen, jemandem einen angenehmen Abend zu bereiten und ihn bei guten Speisen und erlesenen Getränken für sich einzunehmen.

Der Schießstand Zehlendorfer Shooters hätte, so betrachtet, eigentlich nicht zu diesen Orten zählen dürfen. Zunächst einmal war es ausgesprochen laut; einen Großteil der Zeit über trug man einen Gehörschutz. Jeder Gast, der schießen wollte, wurde am Stand von einer Aufsichtsperson des Schießstands – nun – beaufsichtigt, was es unmöglich machte, zu plaudern oder ein vertrauliches Gespräch zu führen. Es gab keine Fenster; die grauen Betonwände wiesen unschöne Einschusslöcher auf, die weniger begabte Schützen vor allem in die niedrige Decke zu schießen pflegten. Der einzige gastlich anmutende Bereich bestand aus einigen Ledermöbeln und einem dunklen Perserteppich. Besonders ungastlich blieb die Tatsache, dass niemand Alkohol trinken durfte.

Vivienne Arp saß in der tiefen Ledercouch und schwenkte ihre Cranberry-Schorle über die Eiswürfel. Sie gab zu: Trotz all dieser Widrigkeiten hatte sich der Schießstand bewährt. Das gemeinsame Hantieren mit tödlichen Waffen erwies sich immer wieder als Balsam für die Kundenbindung. Kundengewinnung in diesem Fall.

Vivienne hatte vor gut einem halben Jahr beschlossen, der Welt der Großkanzleien den Rücken zu kehren und stattdessen bei Bloch & Partner anzuheuern. Bloch & Partner waren eine mittelständische Steuerkanzlei, also deutlich kleiner als das, was Vivienne gewohnt war. Tatsächlich waren Bloch & Partner nun wieder etwas zu klein. Ihre neue Kanzlei, das war Vivienne von vornherein klar gewesen, befand sich in derselben misslichen Lage wie unzählige andere mittelständische Betriebe: Um mit den Großkanzleien zu konkurrieren, die Büros in jeder größeren Stadt auf der Welt unterhielten, brauchte man ein internationales Netzwerk. Bloch & Partner sollten fusionieren; und ganz oben auf Viviennes Liste der erstrebenswerten Fusionspartner stand die Londoner Kanzlei Coppersdale LLP.

Bei Coppersdale gab es, wie Vivienne wusste, zwei Meinungen, die zählten: Erstens die von Hugh Coppersdale senior, und zweitens die seines Sohnes – ebenfalls Hugh Coppersdale junior. Hugh Coppersdale senior war der Inhaber der Kanzlei. Er ging mittlerweise auf die Siebzig zu. Sein Sohn sah ihm erstaunlich ähnlich; optisch unterschied beide im Grunde nur die Haarfarbe: Senior schneeweiß, junior dunkelblond.

Hugh Coppersdale junior nahm soeben neben Vivienne Platz.

»Vater scheint sich zu amüsieren«, meinte er und deutete mit einem Lächeln hinüber zu Schießstand 1, wo ein Mitarbeiter des Clubs gerade dabei war, ein Präzisionsgewehr auszupacken. Hugh Coppersdale senior stand interessiert daneben.

»Ach ja«, sagte Vivienne, »die Langwaffen haben wir nicht oft hier. Ich glaube, Richard hat sie extra für Sie und Ihren Vater bestellt, damit Sie sich fühlen wie zuhause auf Entenjagd. Das heißt, irgendwo müssten auch ein paar Flinten ausgelegt werden.«

Coppersdale lachte. »Ich wollte gerade darauf hinweisen, dass wir nur äußerst selten mit Scharfschützengewehren unterwegs sind. Wäre aber mal eine nette Abwechslung. Sehr aufmerksam von Ihnen.«

»Aber gern. Wir freuen uns, wenn Sie sich freuen«, sagte Vivienne artig.

»Ihnen ist natürlich bewusst, dass mein Vater Ihr geringstes Problem ist, Vivienne.« Coppersdale hatte aufgehört zu lächeln und runzelte nun die Stirn. Vivienne hatte ihn in den vergangenen Wochen recht gut kennengelernt. Er hatte Humor, kam aber immer auch schnell auf den Punkt.

»Mein geringstes Problem – aber immer noch ein Problem?«, hakte sie nach.

»Ich sage es mal so«, setzte Coppersdale an, »mein Vater ist nicht begeistert von der Aussicht. Aber er weiß, dass wir die Fusion brauchen. Wenn nicht mit Bloch, dann mit anderen. Ihre Kanzlei hat einen guten Ruf. Wenn ich für die Fusion stimme, wird auch er dafür stimmen. Und wenn uns kein wichtiger Mandant deswegen abspringt, dann werde ich dafür stimmen.«

»Und welcher Ihrer Mandanten ist also mein größtes Problem?«

»Oh, Ihr größtes Problem scheint gar nicht auf unserer Seite zu bestehen, sondern in Ihren eigenen Reihen. Sie müssen mit Ihrer Tamara Bloch über diese Stimmrechtsverteilung sprechen«, erwiderte Hugh gelassen.

Vivienne war unangenehm überrascht. »Hugh, woher haben Sie denn diese Information?«

»Ihre Kollegen sind redselig.«

Ihre Kollegen, sagte Vivienne sich, waren indiskrete Idioten. Und Tamara Bloch musste eine der übelsten Cholerikerinnen sein, die es in der sonst eher besonnenen Zunft der Steuerberater überhaupt gab.

Es war leider nur allzu wahr, dass Tamara sich querstellte, was ihre Stimmrechte nach der Fusion betraf. Zu diesem Thema wurden unter den Partnern seit Wochen immer wieder hitzige Diskussionen geführt, und die gesamte Kanzlei litt unter Tamara Blochs unerträglicher Laune. Sehr unglücklich, dass diese internen Unstimmigkeiten nun auch zur anderen Seite durchgesickert waren.

»Nun ja«, sagte Vivienne, »es ist kein Geheimnis, dass wir Partner momentan viele Details diskutieren, und jeder pokert. Aber keine Sorge: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

»Wenn Sie das sagen«, erwiderte Hugh; seine Stirn hatte sich wieder etwas geglättet, und er hob grüßend die Hand in Richtung der Neuankömmlinge, die eben die Halle betraten. Es waren die Gäste aus Genf – Mandanten der Coppersdales, die wichtig genug waren, um sie zum potenziellen Fusionspartner nach Berlin einzuladen: Cécile Montejac, Pierre du Lac, Immo Athanasius und Matt Dewey.

Mit ihnen traten nun auch Tamara und Richard Bloch ein. Richard zog den großen Rollkoffer, in dem sich die privaten Waffen der ganzen Firma befanden – die Partner besaßen alle ihre eigene Luger, Heckler oder Beretta. Mit zu sich nach Hause nahm sie aber niemand. Zwischen den Schießabenden der Kanzlei lagen alle Waffen im Firmensafe, und die Blochs übernahmen es, sie von dort mitzunehmen und am Ende des Abends wieder einzuschließen.

Richard stellte den Koffer am mittleren Stand ab, und Tamara sah sich um. Als sie in Viviennes Richtung schaute, lächelte sie. Das war unerwartet.

Hugh hatte es auch bemerkt. »Sie scheinen recht zu haben, Vivienne – Ihre Frau Bloch ist uns heute Abend gewogen.«

»Hmm«, sagte Vivienne nur. Tamara wirkte zufrieden; sogar fröhlich. Unter den gegebenen Umständen ein Grund für Vivienne, sehr misstrauisch zu werden. Vor der Ankunft der Gäste, das war erst ein paar Stunden her, hatte sie noch ihre beiden Steuergehilfen an den Rand der Verzweiflung getrieben. Wutausbruch. Was hatte sich geändert?

Richard Bloch hatte den Rollkoffer inzwischen zwei Mitarbeitern des Clubs überlassen und steuerte, seinen eigenen Pistolenkoffer unter dem Arm, zielsicher auf die einzige weibliche Betreuerin des Abends zu.

Cécile Montejac und Immo Athanasius, die sich zunächst ein Getränk hatten einschenken lassen, kamen jetzt auf die Sitzgruppe zu. Hugh erhob sich sofort. »Setzen Sie sich doch bitte, Cécile! Ich werde mal schauen, was Vater da so fasziniert«, sagte Hugh und schlenderte in Richtung Stand 1.

Immo Athanasius folgte ihm. Immo Athanasius… Vivienne war sich ganz und gar nicht sicher, was Athanasius von der geplanten Fusion hielt oder wie viel Einfluss er auf die Coppersdales hatte. Ein schlanker Mann mit hellbraunem Haar und grauen Schläfen; vielleicht Ende vierzig. Außerdem ein Edelsteinhändler mit bemerkenswerten Umsätzen.

Cécile Montejac nahm Platz. Sie war eine elegante Blonde in den Vierzigern, Kanadierin, sprach ausgezeichnet deutsch und brachte den Coppersdales jedes Jahr Umsätze im sechsstelligen Bereich ein. International operierender Schmuckhersteller. Außerdem: Federführend in der Diamond Alliance. Der Fusion zugeneigt.

»Ach du liebe Zeit. Schießen Sie eigentlich selbst auch, Frau Arp?«, fragte sie und nippte an ihrem Wasser.

»Oh ja, seit ich in der Kanzlei bin. Ich darf sogar sagen, dass ich mittlerweile sehr treffsicher bin«, antwortete Vivienne.

»Aha, dann werde ich kaum in Ihrer Liga spielen. Nun, da bin ich gespannt. Pierre dürfte ja in seinem Element sein«, sagte Montejac mit einem Seitenblick auf Pierre du Lac. Offenbar hatte dieser seinen Namen gehört und kam nun zu ihnen herüber, zusammen mit Matt Dewey.

Du Lac war auf seine Art ebenso elegant wie Montejac, nur dass sein Haar dunkel und sein französischer Akzent stärker war.

»In meinem Element?«, hakte er nach.

»Na hier, auf dem Schießstand. Du, der große Sicherheitsexperte«, erklärte Montejac.

Du Lac lächelte breit; seine ausgeprägten Mimik-Falten mussten bedeuten, dass er das oft tat. »Das ist allerdings wahr. Ich wäre kein gutes Vorbild für meine Männer, wenn ich nicht gut mit einer Schusswaffe umgehen könnte. Sie wissen vielleicht nicht, Frau Arp, dass meine Familie nicht nur im Schmuckgeschäft ist, sondern sich auch selbst um die Sicherheit kümmert. Inzwischen ist unsere Sicherheitsfirma sogar noch größer geworden als das Geschäft mit den Juwelen.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Vivienne, die sich außerordentlich gern mit den Besten maß, »in diesem Fall sehen wir uns an Stand 1. Da treffen sich die Experten.«

»Ach ja«, sagte jemand hinter ihr. Felix Langhans, wie Vivienne Juniorpartner bei Bloch, war hinter die Sitzgruppe getreten und lehnte sich jetzt von hinten an die Couch. »Wie machen wir das eigentlich gleich – teilen wir uns nach der letzten Rangfolge auf?«

»Davon gehe ich aus«, sagte Vivienne.

Felix schien mit dieser Auskunft nicht glücklich zu sein. Er stand in der Rangfolge weit hinter ihr. »Bei den vielen Gästen können wir uns doch sicher ein wenig freier aufteilen, finde ich.«

»Aha«, sagte Cécile Montejac, »je nachdem, wie gut man ist, schießt man an unterschiedlichen Ständen? Und Sie haben da eine Rangfolge?«

»Das stimmt. Und ich stehe ganz oben«, antwortete Vivienne mit einen angedeuteten Augenzwinkern.

Pierre du Lac nickte ihr anerkennend zu und erhob sein Glas. »Auf einen fairen Kampf, Frau Arp. Ich bin gespannt!«

»Du meinst, du teilst dir den ersten Platz mit Richard Bloch, Vivienne«, fügte Felix stirnrunzelnd hinzu und fing wieder an: »Wir sollten die Rangfolge heute nicht überbewerten, finde ich.«

Felix wandte sich jetzt mit ernster Miene an du Lac und Dewey. »Wollen wir?«, fragte er und setzte sich mit ihnen in Richtung Schießstand 1 in Bewegung.

Montejac lachte, als sie nur noch zu zweit auf der Couch saßen. »Oh, das war abzusehen! So viel Testosteron am Werk – Ihr Schießstand 1 wird heute einen ungewohnten Andrang erleben!«

»Testosteron?« Das war Sophia Schlegel, ebenfalls Juniorpartnerin bei Bloch. Sie setzte sich auf die breite Armlehne an Viviennes Seite. »Das haben wir hier beim Schießen immer reichlich. Es ist mir ein Rätsel, wie man für diesen so genannten Sport einen solchen Ehrgeiz entwickeln kann. Hast du nicht sogar Einzelstunden genommen, Vivienne?«

Vivienne überhörte das und besah sich die Situation an Stand 1. »Es wird wirklich voll da drüben. Felix schießt doch sonst auch nicht an Stand 1!«

Montejac amüsierte sich noch immer. »Oh, die Männer wollen sich natürlich direkt mit Pierre messen. Ich habe das jetzt schon oft beobachtet. Das liegt natürlich an seinem Partygirl. Ornament Ogunmekan ist berühmt.«

»Pierre du Lac und Ornament Ogunmekan sind ein Paar?« Sophia hob die Brauen.

»Oh ja«, sagte Montejac, »in der Schweiz ist das ganz bekannt. Wahrscheinlich denken die Kollegen, wenn sie besser schießen als Pierre, dann heißt das, sie könnten ihm auch sein Partygirl ausspannen. Oder wenn sie ihn in irgendeinem anderen Bereich übertreffen. Der arme Pierre, wird immer in allem herausgefordert, weil die anderen Männer glauben, dass sie dann seine Freundin gewinnen könnten, theoretisch!«

Vivienne sah du Lac und den anderen nach. Sie schienen zu fachsimpeln. Du Lac führte das Wort.

»Sieht nicht so aus, als würde ihm das etwas ausmachen«, befand sie.

»Das stimmt. Für gewöhnlich gewinnt er auch immer alles. Die Herausforderer gehen leer aus. Kein Partygirl für die Verlierer!«

»Seltsame Logik«, meinte Sophia. »Aber dann solltest du ihnen den Spaß wohl lassen, Vivienne.«

»Aber auf gar keinen Fall«, erwiderte Vivienne, die sich Schöneres vorstellen konnte, als in einer Anfängergruppe zu schießen. Sie lächelte Montejac zu. »Bis später.« Sie stand auf.

Inzwischen waren auch die übrigen Partner eingetroffen. Es konnte also demnächst losgehen. Vivienne sah sich nach ihrer Beretta um. Der Rollkoffer war mittlerweile geleert worden; sie entdeckte ihren Pistolenkoffer noch verschlossen auf der Ablage an Stand 2. Sie nahm ihn an sich und wollte eben in Richtung Stand 1 gehen, als Tamara Bloch auf sie zukam und sie anhielt.

»Ach Vivienne, ich wollte noch kurz sagen: Ich denke, wir werden uns jetzt sehr schnell einig.« Tamara lächelte. Schon wieder.

Vivienne wollte wissen warum. »Freut mich zu hören. Darf ich fragen, was genau du im Sinn hast?«

»Du wirst zufrieden sein. Ich habe am Vertrag nichts weiter auszusetzen. Von mir aus können wir morgen eine Fassung verabschieden.«

»Auch die Stimmrechtsverteilung?«, fragte Vivienne.

»Ist geritzt«, meinte Tamara und lächelte weiter. Sie legte freundschaftlich ihre Hand auf Viviennes Arm und schob sie wieder vorwärts.

Vivienne war nun erst recht misstrauisch. Offenbar hatte irgendetwas die Karten neu gemischt und Tamara einen unbekannten Trumpf zugespielt. Vivienne hatte gern alles unter Kontrolle. Gut zu hören, dass Tamara endlich nachgab, aber den Grund dafür nicht zu kennen, störte Vivienne gewaltig.

Das Gedränge an Schießstand 1 war in der Tat bemerkenswert, als Vivienne und Tamara nach vorn durchgingen. Einige der anderen würden sich zu Schießstand 2 verziehen müssen.

Ihr Schießleiter, ein routinierter Berliner, der die Kanzlei in der Vergangenheit oft betreut hatte, begann mit der Einführung. Eine Wiederholung der Regeln war fester Bestandteil dieser Abende, und da heute Gäste anwesend waren, fiel sie besonders ausführlich aus: Waffen nur entladen und offen auf dem Tisch ablegen; zu keiner Zeit den Lauf in eine andere Richtung zeigen lassen als in Richtung des Schussfeldes, auch nicht beim Laden, Prüfen oder Entladen; nicht schießen, bevor der Schießleiter die Freigabe nicht erteilt hatte.

»Aber bevor wir jetzt alle loslegen«, sagte der Schießleiter schließlich, »wir sind hier an Stand 1 deutlich zu viele. Zwei oder drei von Ihnen wechseln bitte mal nach Stand 2 oder 3. Sie haben die freie Auswahl, aber hier sind wir zu viele.«

Vivienne sah sich um. Felix Langhans und Kilian Schneider, ein Bloch-Seniorpartner, waren hier definitiv fehl am Platz. »Üblicherweise teilen wir uns an solchen Abenden immer nach unserer Rangfolge auf. Hier an Stand 1 bleiben die sehr erfahrenen Schützen. Also Felix, Kilian –«

Sie brauchte nicht fortzufahren. Kilian hob die Hände. »Gut, dann gehen wir rüber. An den anderen Ständen gibt es normalerweise auch mehr Coaching – falls also jemand von Ihnen eher ein Anfänger ist?« Er wandte sich fragend an die Gäste.

Hugh Coppersdale junior trat zuvorkommend vom Waffentisch zurück. »Oh, Matt schießt auch regelmäßig mit uns in den Cotswolds. Aber ich habe nichts dagegen, an einem anderen Stand zu probieren.«

Die drei zogen sich zurück; wie vorgesehen waren sie jetzt nur noch zu fünft: Vivienne selbst, Tamara Bloch, Pierre du Lac, Matt Dewey und Hugh Coppersdale senior.

»Wer von den Damen und Herren möchte denn gerne anfangen?«, fragte der Schießleiter. Matt Dewey klopfte Pierre du Lac auf die Schulter.

»Ich glaube, wir sind alle gespannt darauf, wie Monsieur du Lac sich schlägt«, meinte Dewey mit einem, wie es Vivienne vorkam, nicht ganz echten Lächeln.

Dewey, der in dritter Generation ein Familienunternehmen führte, hatte sich bisher als ruhigen Typ präsentiert. Nicht als jemand, der groß an Konkurrenzkämpfen interessiert wäre. Möglicherweise hatte Cécile Montejac nicht ganz Unrecht, dachte Vivienne. Ob dieses Partygirl Ornament Ogunmekan der Grund war oder nicht: Etwas lag in der Luft. Die Kontrahenten wollten sich miteinander messen; taxierten sich gegenseitig. Genau das war es, was einen Wettkampf für Vivienne besonders reizvoll machte: Wenn die Beteiligten es wirklich wissen wollten; wenn sie auf Sieg spielten.

Du Lac schien gegenüber Deweys kleiner Herausforderung ganz und gar nicht abgeneigt zu sein. Mit einem leichten Lächeln auf dem markanten Gesicht musterte er ihn. Aber das würde kein Wettkampf nur zwischen Dewey und du Lac werden.

»Wie wäre es, wenn die Damen anfangen?«, fragte Vivienne und schob den Koffer mit ihrer Beretta in die Mitte des Waffentisches.

»Ladies first«, bestätigte Coppersdale senior mit einem galanten Kopfnicken. Auch er schien sich darauf zu freuen, die Schießkünste der anderen in Augenschein zu nehmen und mit den eigenen dagegenzuhalten.

Vivienne griff nach ihrer Beretta. Es sah so aus: Wenn irgendjemand Pierre du Lac heute Abend alt aussehen lassen würde, dann Vivienne selbst. Und sein Partygirl konnte er behalten.


Teil 1: Ein Schuss ins Herz

Die psychologische Notaufnahme in Berlin-Mitte befand sich in einem unansehnlichen Sechzigerjahre-Bau, vor dem man nicht parken konnte. Parkverbotsschilder waren für Polizisten zwar nur von zweitrangiger Bedeutung, und in vielen Fällen hätte Julius nicht weiter darauf geachtet; aber vor Krankenhäusern hielt man sich schon mal daran. Auch wenn Julius unklar war, ob eine freie Zufahrt für Krankentransporte bei einer psychologischen Notaufnahme überhaupt erforderlich war; kamen die Patienten hier im Krankenwagen an?

Holtei beschwerte sich natürlich lautstark über die Parksituation und regte sich auf, weil Julius wenigstens eine Runde um den Block drehen wollte, um nach einem regulären Parkplatz Ausschau zu halten. Julius störte sich nicht an ihrem Gezeter. Im Gegenteil, er fand immer, dass Holteis sanguinische Ausbrüche ihren langen Arbeitstagen einen angenehmen Schwung verpassten. Sich selbst sah Julius als einen eher friedlichen, unaufgeregten Typ. Er machte sein Ding, fühlte sich selten persönlich angegriffen und besaß eine Engelsgeduld. Im Grunde fand er sich selbst etwas langweilig; der Nervenkitzel bei der Kripo war genau das Richtige für ihn. Das galt insbesondere, seit er mit der gleichermaßen fähigen und wilden Holtei zusammenarbeitete, die sich mühelos über Dinge aufregen konnte, die er ohne sie als alltäglich abgetan hätte.

Entsprechend war Julius in heiterer Stimmung, als er endlich im geeigneten Halteverbot – auf der Ecke einer ruhigeren Kreuzung – parkte, Holtei sich den Sicherheitsgurt herunterriss, aus dem Wagen sprang und fluchend die Tür zuknallte.

Sie waren nur eine Querstraße vom Klinikeingang entfernt. Im Inneren erwartete sie der Klinikstandard: kahle Wände, hellgrüner Linoleumboden. Der Eingangsbereich war bis auf die beiden Arzthelferinnen am Empfangstresen leer.

Wie nicht anders zu erwarten hatte Holtei sich komplett abgeregt und meldete sie an: »Guten Tag, Kommissare Gravi und Holtei, Kripo Berlin. Wo bitte ist das Wartezimmer von Doktor Patel?«

Die beiden Arzthelferinnen sahen sie aufgeschreckt an.

»Sie wollen mit Frau Doktor Patel sprechen?«, fragte die ältere.

»Oh nein, wir möchten mit Herrn Bloch und Frau Arp sprechen, und uns wurde gesagt, dass wir die beiden bei Doktor Patel antreffen würden.«

Die Arzthelferinnen sahen sich kurz an. Die Miene der jüngeren hatte sich bei Holteis Worten verdüstert, wie Julius bemerkte.

»Sie können natürlich nicht ins Behandlungszimmer. Aber der Wartebereich für Doktor Patel ist direkt hinter der Glastür«, sagte die Ältere und deutete auf einen der Korridore, die vom Eingangsbereich wegführten.

»Vielen Dank«, sagte Holtei und wandte sich in die gewiesene Richtung.

Den Korridor hinter der Glastür konnte man kaum als Wartebereich bezeichnen; an der Wand standen sechs Stühle und ein winziger Tisch. Nur einer der Stühle war besetzt. Während er mit Holtei auf die Glastür zuging, konnte er dahinter eine Gestalt erkennen, die eine Zeitung vor sich aufgeschlagen hatte. Dann blätterte sie um; es ergab sich ein kurzer Blick auf glattes rotes Haar.

*** Ende der Leseprobe ***